- Verfahrensrechtliche Vorgehensweise
Die Oberbürgermeisterin hat unverzüglich nach ihrer Rückkehr aus dem Mutterschutz am 08.09.2023 die Aussetzung der Vollziehung des Stadtratsbeschlusses vom 19.07.2023 verfügt, und ist - wie bereits in der Stadtratssitzung vom 19.07.2023 angekündigt und im Protokoll ersichtlich - mit der Bitte um rechtsaufsichtliche Überprüfung des Beschlusses an die Rechtsaufsichtsbehörde herangetreten.
Die Rechtsaufsichtsbehörde (Landratsamt Lindau (B)) hat mit Schreiben vom 18.09.2023 folgendes mitgeteilt:
„..Nach ausführlicher Prüfung der Verfahrensweise im Rahmen des Vollzuges des Art. 59 GO ist eine erneute Behandlung im Stadtrat entgegen der ersten Annahme doch erforderlich. Eine Entscheidung der Rechtsaufsicht ist gem. Art. 59 Abs. 2 Satz 2 GO „soweit erforderlich“ herbeizuführen.
Hält der erste Bürgermeister einen Beschluss des Gemeinderats für rechtswidrig, so muss die Beanstandung dem Gemeinderat gegenüber schriftlich oder mündlich erklärt werden. Dabei muss zum Ausdruck kommen, dass der Beschluss beanstandet und sein Vollzug ausgesetzt wird (Widtmann/Grasser/Glaser, Bayer. Gemeindeordnung, 33. Auflage 2023, Art. 59 GO, Rn. 8). Wie im Schreiben vom 01.08.2023 ausgeführt, wäre der Stadtrat auf das beabsichtigte Vorgehen nach Art. 59 Abs. 2 GO hinzuweisen. Der Stadtrat hat in einer weiteren Sitzung unter Berücksichtigung der Beanstandungsgründe zu entscheiden, ob er bei seiner Entscheidung bleibt, oder seine Entscheidung aufhebt. Nur wenn das Entscheidungsorgan an der beanstandeten Entscheidung festhält und der erste Bürgermeister seine Beanstandung aufrechterhält, ist anschließend die Entscheidung der Rechtsaufsicht herbeizuführen. Wird die Beanstandung vorgelegt, ohne dass der Stadtrat nochmals Gelegenheit zur Entscheidung hat, wird ihm auch die Gelegenheit verwehrt, eine möglicherweise rechtswidrige Entscheidung selbst zu korrigieren.“
Aus diesem Grund wird der Vorgang erneut in der Sitzung vom 27.09.2023 dem Stadtrat der Stadt Lindau (B) zur Beschlussfassung vorgelegt. Sollte der Stadtrat den Beschluss vom 19.07.2023 nicht aufheben, wonach der Beschluss vom 22.05.2023 wieder aufleben würde, erfolgt die unmittelbare Beanstandung nach Art 59 Abs.2 GO durch die Oberbürgermeisterin und die Überprüfung und Entscheidung durch die Rechtsaufsichtsbehörde.
- Inhaltliche Bewertung
Das Thema „Absturzsicherung an Uferstellen“ wurde in der Stadtratssitzung vom 22.05.2023 abschließend behandelt und abgestimmt.
Bereits im Werkausschuss vom 08.05.2023 war aktenkundig (Protokoll) darauf hingewiesen worden, dass Mitglieder des Stadtrates, die nicht über eigene Expertise im gegenständlichen Fachgebiet verfügen, gehalten sind, sich diese Expertise zu beschaffen durch Beauftragung eines Gegengutachtens oder ein solches zu beantragen, wenn sie gegen den Beschlussvorschlag der Verwaltung, welcher auf den Feststellungen des Sachverständigen beruht, stimmen möchten. Nur dann besteht kein Haftungsrisiko für die Mitglieder des kommunalen Gremiums, falls es zu einem Schadensfall und zu einem kausalen Haftungszusammenhang kommen würde, weil notwendige Maßnahmen nicht umgesetzt wurden.
Vorliegend ging der Stadt Lindau (B) der interfraktionelle Antrag, gerichtet auf Aussetzung des Vollzuges und Beantragung eines Gegengutachtens, erst am 10.07.2023 zu.
Nach entsprechender Vorbereitung auf die Sitzung am 22.05.2023 hätte aus Sicht der Verwaltung die Ablehnung des Beschlussvorschlages direkt mit einem Antrag auf ein Gegengutachten verbunden werden müssen, insbesondere nachdem hierauf im Werkausschuss vom 08.05.23 bereits hingewiesen worden war.
Da das Gutachten, welches aus Sicht der Verwaltung nicht an offensichtlichen Mängeln leidet, Gefahrensituationen feststellt, erscheint eine weitere Verzögerung durch die Beauftragung eines Gegengutachtens unter gleichzeitiger Aussetzung des Verkehrssicherungsmaßnahmenbeginns, welches nach Einschätzung der GTL, Herrn Hummler, mindestens weitere drei Monate in Anspruch nehmen würde, möglicherweise nicht vertretbar. Insbesondere kann nicht ausgeschlossen werden, dass ein Gericht bei einem in der Zwischenzeit möglicher Weise auftretenden Schadensfall hier eine Haftung wegen rechtswidrigen Verhaltens der verschiedenen Beteiligten annehmen würde.
Aus diesem Grunde wurde von der Sitzungsleitung in der Stadtratssitzung vom 19.07.2023 auch zu Protokoll gegeben, dass die Rechtsaufsichtsbehörde eingebunden werde, mit der Frage, ob trotz möglicher Gefahr im Verzug, der Stadtratsbeschluss über die vorläufige Aussetzung der Maßnahmen rechtmäßig ist und vollzogen werden kann, also ein weiteres Gutachten beauftragt werden soll.
Auf die Anfrage der Stadt teilte das Landratsamt mit Schreiben vom 01.08.2023 an den 2. Bürgermeister, Mathias Hotz, mit, dass eine umfassende rechtsaufsichtliche Überprüfung nur erfolgen könne, wenn eine formale Beanstandung gem. Art. 59 Abs.2 GO erfolge, und das in § 29 Abs.7 der Geschäftsordnung für den Stadtrat Lindau (B) formulierte Befassungsverbot einer erneuten Befassung wohl nicht grundsätzlich entgegenstehe.
Die Regelung in § 29 Abs. 7 der Geschäftsordnung für den Stadtrat Lindau (B) sieht vor, dass eine erneute Abstimmung zu einem bereits abgestimmten Sachverhalt regelmäßig nur bei Hinzutreten neuer oder besonderer Umstände in Betracht kommt.
Eine derartige Fallkonstellation ist jedoch aus Sicht der Verwaltung unter Umständen aus unten näher erläuterten Gründen nicht gegeben.
a.
Bereits im Werkausschuss am 08.05.2023, sowie im Stadtrat vom 22.05.2023 wurde über die Empfehlungen des Gutachtens Beschluss gefasst, jedoch kein Gegengutachten beantragt. Es gab daher weder neue noch gewichtige oder vergleichbare Gesichtspunkte, die für eine erneute Befassung sprechen würden. Die Zweifel an der Plausibilität des Gutachtens hätten bereits anlässlich und nach Vorbereitung auf die Beschlussfassung am 08.05.2023 bzw. 22.05.2023 formuliert und mit einem Antrag auf ein Gegengutachten bei Ablehnung des Beschlussvorschlages der Verwaltung verbunden werden müssen. Hinzu kommt, dass auch nach erneuter Überprüfung der im interfraktionellen Antrag vorgetragenen Zweifel am Gutachter sowie an der Qualität des Gutachtens durch die Verwaltung die Zweifel nicht bestätigt werden können, so dass auch aus diesem Grund kein gewichtiger oder vergleichbarer Grund für eine erneute Befassung festgestellt werden kann.
aa. Bei dem zugrundeliegenden Sachverhalt handelt es sich um die Feststellung einer Gefahrensituation mit Handlungsempfehlungen. Dies erfordert eine zügige und verlässliche Bearbeitung, die durch eine erneute Befassung verzögert wird. An den gewichtigen Grund für eine erneute Befassung sind daher hohe Anforderungen zu stellen, die vorliegend nicht erkennbar erfüllt sind.
bb. Im Hinblick auf die verschiedenen Beschlussfassungen in dieser Sache mit immer äußerst knappen Mehrheiten ist nicht zu erwarten, dass der Stadtrat in großer Mehrheit seine Auffassung ändern wird und aus diesem Grunde ein berechtigtes Interesse an der Rückgängigmachung seiner ursprünglichen Entscheidung hat. Wenn eine erneute Beratung gleichwohl für zulässig erachtet würde, könnte das Hin- und Her noch mehrere Male so weiter gehen und es hinge jedes Mal von der Anwesenheit – also von Zufälligkeiten - ab, für welche Entscheidung eine Mehrheit zustande käme.
Das entspricht nach Auffassung der Verwaltung nicht dem Rechtsgedanken, wonach die Beschlussfassung zu bereits zur Abstimmung gebrachten Beratungsgegenständen grundsätzlich Bestand haben sollte, wenn nicht neue Tatsachen, neue gewichtige Gesichtspunkte oder andere gewichtige/ berechtigte Interessen für eine erneute Befassung sprechen.
cc. Dass es sich hier um ein sicherheitsrelevantes Thema handelt, spricht aus Sicht von der Verwaltung einmal mehr für das Interesse am Bestand und der damit möglichen zeitnahen Umsetzung der sorgfältig vorbereiteten Stadtratsentscheidung vom 22.05.2023.
Gleichzeitig muss erwähnt werden, dass die Rechtsprechung das Antragsrecht der Stadtratsmitglieder sehr hoch bewertet und auch das Landratsamt zunächst kein grundsätzliches Befassungsverbot sieht. Ob im Sinne der Funktionsfähigkeit des Gremiums Stadtrat (Stichwort: „Abstimmungs-Ping-Pong“) ein Befassungsverbot nach § 29 Abs. 7 der Geschäftsordnung anzunehmen wäre, kann jedoch dahin stehen, wenn materiell-rechtliche Aspekte eine Beanstandung erfordern.
Aus Sicht der Verwaltung kann hier gerade nicht rechtssicher ausgeschlossen werden, dass ein Gericht strafrechtlich relevantes Verhalten und/ oder eine zivilrechtliche Haftung annehmen würde, wenn sich bis zur Erstellung und dann verzögerten Umsetzung eines neuen Gutachtens ein Vorfall ereignen würde.
Maßgebliches Argument für die Überprüfung des Stadtratsratsbeschlusses vom 19.07.2023 mit der Folge der Beanstandung beim Landratsamt ist der materielle Aspekt, dass hier durch ein plausibles Gutachten eine Gefahrensituation identifiziert und Handlungsvorschläge zur Beseitigung der Gefahrenlage aufgezeigt wurden.
Aus materieller Sicht war der Sachverhalt in der Stadtratssitzung vom 22.05.2023 abschließend abgestimmt, auf Basis des gutachterlich festgestellten Sachverhaltes.
Zu diesem Zeitpunkt gab es keinen Antrag auf ein Gegengutachten.
Aus Sicht der Verwaltung verbleiben begründete Zweifel, wie ein Gericht die Haftungsfragen beurteilen und gegebenenfalls ein schuldhaftes Verzögern der Umsetzung der Sicherungsmaßnahmen annehmen würde, wenn es zwischenzeitlich zu einem Schadensfall käme. Diese Haftungsrisiken lassen sich aus Sicht von Oberbürgermeisterin und Verwaltung nur durch eine rechtsaufsichtliche Feststellung ausschließen, die besagt, dass die Stadt Lindau (B) mit der Umsetzung der im ersten Gutachten vorgeschlagenen Maßnahmen warten darf, bis ein weiteres Gutachten erstattet wurde, dieses ausgewertet, besprochen und ggfls. abgeänderte Maßnahmen beschlossen wurden.
Für die Vorgehensweise der Beanstandung des Stadtratsbeschlusses vom 19.07.20203 ist in diesem Zusammenhang auch relevant, das aus Sicht von Oberbürgermeisterin und Verwaltung sowohl die einschlägige Expertise des Gutachters, Herrn Ständer von der SiSSWA GmbH, als auch die gutachterlichen Feststellungen zur Erforderlichkeit der Verkehrssicherung und die Darstellung geeigneter Maßnahmen keinen Anlass für Zweifel ergeben.
Hinsichtlich der angezweifelten Expertise des Sachverständigen wird auf dessen Stellungnahme verwiesen. Folgende Feststellungen dürfen ergänzt werden:
Es gibt mehrere Arten von Sachverständigen. Ausschließlich die öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen werden einer Überprüfung ihrer Qualifikation unterzogen. Allerdings wird nur öffentlich bestellt und vereidigt, wenn es hierfür auch ein öffentliches Interesse gibt. Augenscheinlich gibt es keinen öffentlich bestellten Sachverständigen für naturnahe Badestellen und Uferwege. Vielmehr sind die Wege, die zu einer Badestelle hin- oder wegführen oder am Ufer entlang, dem Gesamtbereich „Sicherheit beim Baden und Schwimmen“ zuzuordnen. Hier geht es um den Schutz vor einem Absturz ins Wasser oder Ertrinken (bzw. im Winter oder bei Niedrigwasser um Schutz vor Absturz auf den Steinstrand) und nicht um die Materialbeschaffenheit eines Handlaufes oder die Splittzusammensetzung eines Kiesweges, was nach DIN-Normen beurteilt werden könnte.
Auch die im Gutachten getroffenen Feststellungen sind plausibel und geben aus Sicht der Verwaltung keinen Anlass zu Zweifeln.
In diesem Zusammenhang darf Folgendes ergänzt werden:
Die angewandten Vorschriften, sowie der durch die Rechtsprechung gegebene Rechtsrahmen ist durch die konkreten Vorschläge zu Maßnahmen in der sachverständigen Beurteilung nachvollziehbar umgesetzt worden. Zu beachten ist hierbei, dass das „juristische Normwerk“ zu diesem konkreten Bereich „Verkehrssicherung von naturnahen Badestellen und Uferwegen“ nicht besonders umfangreich ist, sondern dass man hier schnell auch zu den allgemeinen Regeln der Verkehrssicherung und der Haftungsvoraussetzungen bei einem Unterlassen kommt.
Die Verkehrssicherungspflicht erfordert regelmäßig den Schutz vor Gefahren, die über das übliche Risiko bei einer Benutzung öffentlich zugänglicher Bereiche und Anlagen hinausgehen, vom Benutzer nicht vorhersehbar und für ihn nicht ohne weiteres erkennbar sind.
Es handelt sich immer um Einzelfallmaßnahmen. Hier ist im Vorfeld nach Möglichkeit zu prüfen, wie eine gerichtliche Beurteilung aussehen würde.
Das Gutachten formuliert wohl auch eher Mindestanforderungen, wobei ausdrücklich betont wird, dass die Stadtverwaltung über keine eigene Expertise zu diesem Thema verfügt, weshalb die Einholung des Gutachtens erforderlich war.
Nicht zuletzt bedenkenswert, wenn auch nicht ausschlaggebend für die Beanstandung, ist der Aspekt der Wirtschaftlichkeit, wenn nun nochmals ein Gutachten beauftragt würde.